„Die Bolla sind echt“
Von Petra Bail, Eßlinger Zeitung
Ostfildern – Merkwürdige Beulen wölben sich aus einem Betonpfeiler im Bürgertreff. Die haptische Verlockung ist groß. Man will die verführerischen Wölbungen aus Klarsichtfolie berühren. Aus Erfahrung weiß man aber, dass Anfassen von Kunst meistens verboten ist. Nicht so bei dieser Arbeit. Die Reutlinger Künstlerin Jenny Winter-Stojanovic sagt ausdrücklich: „Bitte berühren.“ Und eine Besucherin versichert: „Die Bolla sind echt.“ Vier Tage lang hat Winter-Stojanovic gemeinsam mit Bewohnern und Mitarbeitern im Nachbarschaftshaus im Scharnhauser Park ein bemerkenswertes Teilausstellungsprojekt mit dem Titel „Jenny ist da“ geschaffen.
Säulen, Kleiderständer, Balustraden, Steine, Holz und Fenster sind mit haushaltsüblicher Frischhaltefolie umwickelt. Insgesamt wurde weit über ein Kilometer der elastischen Folie verarbeitet. Eine spannende Erfahrung, wie die 42-jährige Künstlerin mit dem leuchtend orangefarbenen Haar erzählt. Am meisten beeindruckt habe sie die gelöste Stimmung, die dabei in den verschiedenen Abteilungen spürbar war. Schließlich ist der Zugang zu dem Material für Menschen ab 70 aufwärts schwierig. „Diese Generation sieht das als Verschwendung.“ Dennoch schaffte es Jenny Winter-Stojanovic mit ihrer erfrischenden, empathischen Art, die Bewohner zum Mitmachen zu bewegen. Erst bekam der Christbaum ein Winterkleid aus dem dünnen Kunststoff. Konkrete Eiszapfen, Schneebälle und Schleifen entstanden aus Frischhaltefolie. Dann wurde die Folienhaut um Ellbogen und Hände gewickelt. Gegenseitige Berührungen weckten Empfindungen und positive Assoziationen.
„Über die sinnliche Wahrnehmung entsteht Kommunikation“, findet Gabriele Beck von der Leitstelle für Ältere. Sie freut sich, dass sich die Künstlerin so offen auf „alle Schwingungen“ im Haus eingelassen habe, das „Engagement Heimat für viele Bürger und für Menschen mit Demenz“ sei. Und auch Holle Nann, Leiterin der Städtischen Galerie Ostfildern, die den Kontakt zwischen Künstlerin, Gabriele Beck und Gisela Burgfeld vom Offenen Atelier hergestellt hat, empfand die Projektarbeit, die von der Bürgerstiftung unterstützt wird, als ausgesprochen konzentriert. Mit großem Respekt sei sie an die Sache herangegangen, verriet Jenny Winter-Stojanovic im Gespräche mit Holle Nann bei der Eröffnung. Bislang habe sie eher skulptural gearbeitet. „Ich wusste nicht, was dabei herauskommt. Ich hatte keinen Plan im Kopf“, so Winter-Stojanovic. Schließlich habe sie sich selbst mit dem Titel beruhigt, der nicht heiße „Jenny macht was“, sondern „Jenny ist da“. „Und wenn nichts passiert, leuchte ich einfach“, fügte sie in Anspielung auf ihre Haare hinzu, die sie nicht als Farbe, sondern als Statement verstanden wissen will – und das seit 26 Jahren.
Sie erzählt sichtlich bewegt von intensiven Begegnungen und berührenden Momenten in der Tagespflege, in einzelnen Wohngruppen, im Offenen Atelier und im Bürgertreff. Angehörige erzählten die Lebensgeschichte, während sie mit den Bewohnern wickelte. Ein Gast wollte anfangs nicht mitmachen, weil ihn die Frage umtrieb: „Wer wickelt alles wieder aus?“ Berechtigt, sagt Winter-Stojanovic, sie überzeugte den Mann dann aber doch.
Nach vier Wochen werden die Arbeiten, die auch gut durchs Fenster im Bürgertreff zu sehen sind, abgebaut und in die Städtische Galerie transportiert. Währenddessen erfahren sie eine künstlerische Verwandlung. In den Galerieräumen sind sie ab 22. April gemeinsam mit der Serie „Gehäuse“ von Hanjo Schmidt zu sehen. Der Künstler hat seine Erfahrungen mit seiner demenzkranken Mutter in großformatigen Bildern verarbeitet.
Diese Arbeiten haben den Impuls zur Kooperation mit Jenny Winter-Stojanovic gegeben. Auf der einen Seite eindringliche Bilder, die von der Kontaktaufnahme von einem abgekapselten Gegenüber sprechen, von dem es „keine Verbindung nach außen gebe, wie bei den eingewickelten Objekten“, so Schmidt. Oder wie bei einer Perle: Schutz und Abschottung gleichermaßen. Auf der anderen Seite die Arbeit mit Frischhaltefolie, die Winter-Stojanovic als Haut, als Schutzhülle des Menschen sieht: „Zellformationen“, die an den Ursprung des Lebens erinnern sollen. Demut und Dankbarkeit habe sie bei der Projektarbeit erfahren, eine zentrale Erkenntnis, die sich nicht nur auf ihr Leben, sondern auch auf ihre Arbeit auswirken werde. Wie, darauf dürfen die Besucher von „Gehäuse“ gespannt sein.
Die Arbeiten sind bis Ende Februar im Nachbarschaftshaus und im Bürgertreff zu sehen.